Übersicht Pressespiegel

Kassandra vom Rhein

von Dr. Marc Beise

Er ist kein Rheinländer, sondern ein in der DDR aufgewachsener gebürtiger Wiener - und gehörte doch zum Kernpersonal der Bonner Republik. Er ist auch kein Ökonom, sondern ehemaliger Musikstudent und promovierter Jurist - und gehört doch zu den festen Größen im wirtschaftlichen Diskurs. Meinhard Miegel, der an diesem Donnerstag 70 Jahre alt wird, ist seit Jahrzehnten die Kassandra der Nation und sein Warnruf kennt im Wesentlichen ein Thema: den Alterungs- und Schrumpfungsprozess der Deutschen und die Auswirkung auf Gesellschaft und politisches System.

Ewigen Lorbeer hat sich der kantige Politikberater mit seiner Forderung nach einer demographiegerechten Alterssicherung erworben. Das deutsche Rentensystem ist in den fünfziger Jahren unter Konrad Adenauer als Umlageverfahren organisiert worden: Die Arbeitnehmer von heute zahlen die Rente der Arbeitnehmer von gestern. Das System funktioniert im Allgemeinen gut, bei sinkender Geburtenzahl und wachsender Arbeitslosigkeit jedoch schlecht. Es war Adenauer persönlich, der mit dem Ausspruch "Kinder kriegen die Leute sowieso" den Kern unserer heutigen Probleme säte, indem er dezidiert verhnderte, dass die Kinderzahl in die Rentenformel einbezogen wurde. 20 Jahre später versuchte Miegel, diesen Fehler zu korrigeren und er hatte mit dem damaligen CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf einen einflussreichen Mitstreiter.

Miegel und Biedenkopf plädierten unter anderem für eine steuerfinanzierte, einheitliche Grundrente. Doch die beiden scheiterten und ihr Schicksal steht beispielhaft für die Mutlosigkeit und Engstirnigkeit der Politik. Der Generalsekretär wurde dem CDU-Patriarchen Helmut Kohl zunehmend lästig, als innerparteilicher Kritiker gefährlich und am Ende abgelöst. Stattdessen setzte Helmut Kohl auf Sozialpolitiker wie Heiner Geißler oder Norbert Blüm ("Die Rente ist sicher"). Jahrzehnte wurden vertändelt, ehe die Rentenversicherung dann doch umgebaut werden musste - mit umso größeren Anpassungskosten.

An Miegel hat dieses Denkversagen der Republik gewiss nicht gelegen. Sein privates Institut für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG) in Bonn war Nährboden für zahllose pointierte gesellschaftspolitische Analysen. Während Biedenkopf als Ministerpräsident von Sachsen zu alter Herrlichkeit fand, wurde Miegel die Rolle des verdrossenen Schwarzsehers nicht los. Ein gefragter Vortragender, aber einer, dessen Schlussfolgerungen nie mehrheitsfähig wurden. Das ist bitter für einen, der ebenso wei sein politischer Mentor Biedenkopf nicht eben an einem verkümmerten Selbstbewusstsein leidet.

Die große Finanzkriste hat Miegel wohl nicht vorhergesehen. Sie kann ihn dennoch nicht wirklich überrascht haben, denn dass die Gesellschaft sich viel zu sehr auf die Ökonomie verenge und der Bevölkerung die Mehrung des Wohlstands über alles gehe, war schon lange sein Verdikt. Derzeit sitzt Miegel in Schreibklausur über einem neuen Buch. Es könnte wieder ein Bestseller werden wie vor einigen Jahren "Die deformierte Gesellschaft". Die Zeiten sind danach.

Süddeutsche Zeitung, 23. April 2009